Ghetto Litzmannstadt 1940-1944 - Forschen, Gedenken, Lernen

Ghetto Litzmannstadt 1940-1944 - Forschen, Gedenken, Lernen

Organisatoren
Berliner Stiftung Topographie des Terrors und vom der Lódz'er Abteilung des "Instytut Pamięci Narodowej" (Institut des Nationalen Gedenkens - IPN)
Ort
Łódź
Land
Poland
Vom - Bis
28.08.2006 - 01.09.2006
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Von
Thomas Irmer, Berlin

Im Rahmen der Feierlichkeiten zum 62. Jahrestag der Liquidation des Ghettos Litzmannstadt fand vom 28. August bis 1. September 2006 ein deutsch-polnisches Gedenkstättenseminar im polnischen Lódz' statt. An der, von der Stadt Lódz', der Berliner Stiftung Topographie des Terrors und der Lódz'er Abteilung des Instytut Pamie;c'i Narodowej (Institut des Nationalen Gedenkens – IPN), durchgeführten Tagung nahmen deutsche und polnische Wissenschaftler/innen, Mitarbeiter/innen von Gedenkstätten, Museen und Initiativen sowie Lehrer/innen und Studierende teil. Unter den mehr als 100 Teilnehmer/innen der Zusammenkunft im Kleinen Sitzungssaal des Rathauses befanden sich auch Überlebende des Ghettos Litzmannstadt, die sich mit wertvollen Beiträgen an den Diskussionen beteiligten.

Ziel der Tagung war es, einen Einblick in den aktuellen Stand der Forschung zur Geschichte des Ghettos Litzmannstadt zu geben sowie neueste Erträge vorzustellen und zu diskutieren. Besondere Berücksichtigung fanden dabei Beiträge, die Zusammenhänge zwischen den Städten Berlin und Lódz' herstellten. Das Gedenkseminar sollte Ausgangspunkt für ein neues Projekt deutscher und polnischer Studierender sein, das sich mit der Rekonstruktion und Bearbeitung von Lebensgeschichten von ins Ghetto Litzmannstadt deportierten Berliner Jüdinnen und Juden befasst.

Erinnerung und Gedenken am 62. Jahrestag
Am Beginn der Tagung stand die Teilnahme an den offiziellen Gedenkveranstaltungen zur 62. Wiederkehr des Tages der Liquidation des Ghettos Litzmannstadt am 29. August 1944. Auftakt des Gedenkens bildete eine Zeremonie am Eingang zum Jüdischen Friedhof. Im Anschluss fand ein Gedenkmarsch zum neuen Gedenkort am ehemaligen Verlade-Bahnhof Radegast statt. Im Rahmen der dortigen Feierlichkeiten, an der auch die Botschafter Israels und der USA, aber keine diplomatischen Vertreter der Bundesrepublik sprachen, enthüllten Heide Knake-Werner, Senatorin für Gesundheit und Soziales des Landes Berlin, und Andreas Nachama, Leiter der Stiftung Topographie des Terrors, eine von der Berliner Lotto-Stiftung finanzierte Gedenktafel zur Erinnerung an die mehr als 4.000 Berliner Jüdinnen und Juden, die in das Ghetto deportiert worden waren. Im neu errichteten „Park der Überlebenden“ klang der Gedenktag durch das Pflanzen von vier Bäumen zur Erinnerung an die Berliner Deportierten würdevoll aus.

Am Nachmittag des folgenden Tages fand eine Besichtigung der Gedenkstätte Chelmno/Kulmhof statt. Diese befindet sich in baulicher Hinsicht und ganz im Gegensatz zu den neuen Gedenkorten in Lódz' oder in Deutschland noch immer in einem eher traurigen Zustand. Sie ist nicht Teil des staatlichen polnischen Gedenkstättenprogramms und auch in Deutschland scheint sich mehr als 60 Jahre nach der Befreiung des Ghettos niemand für die Pflege dieses auch für die Genese des Holocaust so bedeutsamen Ortes verantwortlich zu fühlen. Vor allem Dank des Engagements der polnischen Mitarbeiter/innen des von der örtlichen Kommune finanzierten kleinen Museums wurden Grabungen auf dem Gelände des ehemaligen Palais durchgeführt, bei denen persönliche Habseligkeiten von Ermordeten aufgefunden wurden.

Neue Wege der Erinnerungskultur in Lódz'
Die neuen Gedenkorte in Lódz', die anlässlich des 60. Jahrestages eingeweiht wurden, verdeutlichen die Veränderungen in der Erinnerungspolitik der Stadt Lódz' in den letzten zwei Jahren. Dazu zählt die Anerkennung der jüdischen Geschichte der Stadt und die Respektsbezeugung gegenüber den jüdischen Opfern. Außerdem versucht die Stadt, mittels dieser zeitgenössischen Formen des Gedenkens einen Teil ihrer neuen Identität zu gestalten. Nach dem Verlust der eigenen Bedeutung als Zentrum der Textilindustrie („Manchester des Osten“) positioniert sich die ehemals proletarischste Stadt Polens verstärkt als weltoffene, multi-ethnische Stadt in Mitteleuropa. Dabei wird versucht an die eigene, keineswegs widerspruchsfreie Geschichte als Vielvölkerstadt anzuknüpfen, deren Substanz durch die Deutschen so brutal zerstört wurde.

Neueste Forschungen zur Geschichte des Ghettos Litzmannstadt
Im Vordergrund des ersten Seminartages stand der vom Lódz'er Stadtpräsident Jerzy Kropiwnicki, der Berliner Sozialsenatorin Heide Knake-Werner und vom Lodzer Rabbiner Symcha Keller eröffneten und von Thomas Lutz geleiteten Tagung stand die Vorstellung neuester Forschungen zur Geschichte des Ghettos Litzmannstadt und der Verfolgung der polnischen Jüdinnen und Juden in der Region selbst.

Ingo Loose (Berlin) stellte den neueren Forschungsstand zur „Endlösung der Judenfrage“ im „Reichsgau Wartheland“ vor. Auch die kürzlich erschienene Arbeit von Michael Alberti weist, wie Loose hervorhob, daraufhin, dass die „völkische Flurbereinigung“ von Anfang an ein zentraler Bestandteil der deutschen Besatzungspolitik gewesen ist. Bereits 1939 wurde in Lódz' die Errichtung eines Ghettos geplant. Die Forschung geht heute von etwa 160.000 Jüdinnen und Juden aus, die in Chlemno ermordet worden sind.

Peter Klein (Hamburg/Berlin) beleuchtete auf der Grundlage seiner umfangreichen wie grundlegenden Forschungen die Rolle der Stadtverwaltung Litzmannstadt bei der Errichtung und Verwaltung des Ghettos. Klein sprach in diesem Zusammenhang von einem „Netzwerk der Verfolgung“, in dem die Stadtverwaltung eine besondere Stellung einnahm. So wurde sie auch zur verwaltungsmäßigen zentralen Abwicklungsstelle für alle Ghettos im besetzten Polen. Keiner der ca. 410 deutschen Verwaltungsbeamten musste sich nach 1945 vor Gericht verantworten.

Im Anschluss berichtete Julian Baranowski (Lódz') über neue Forschungsergebnisse zur Thematik der polnisch-christlichen Hilfe für Juden. Danach zeigte sich, dass die deutsche Besatzungspolitik versucht habe, Kontakte zwischen Juden und Polen zu verhindern, indem beispielsweise in Lódz' sieben Todesurteile gegen Polen vollstreckt wurden, die Juden geholfen hatten. Die mehr als 6.000 Polen, die Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ bisher anerkannte – so viele wie aus keinem anderen europäischen Land – belegen allerdings, dass es trotzdem ein eindrückliches Ausmaß an solidarischem Handeln gegeben hat.

Thomas Irmer (Berlin) referierte über Zwangsarbeit für die "Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft" (AEG) im Ghetto Litzmannstadt. Der Berliner Elektrokonzern ließ sich bei der Verlagerung einer Produktionsstätte zur Spaltung des für Isolierzwecke verwendeten Mineralgesteins Glimmer in das Ghetto Lodz allein von Nützlichkeitserwägungen leiten. Sobald sich die von zeitweise mehr als 600 Ghetto-Insassen – darunter etwa 50% Kinder und Jugendliche – verrichtete Tätigkeit durch Maschinen ersetzen ließ, wurde die Produktion aus dem Ghetto wieder abgezogen. Bis dahin hatte der „Judenrat“ des Ghettos gehofft, durch einen solchen Arbeitseinsatz nicht nur Jugendlichen, sondern auch älteren Menschen eine Existenzberechtigung zu sichern.

Zur Auseinandersetzung um die Erinnerung nach 1945
Am zweiten Seminartag gab Janusz Wróbel (Lódz') einen Überblick über die jüngsten polnischen Forschungsergebnisse zur Geschichte der Juden in Lódz' zwischen 1933 und 1945. Thematisch beschäftigt sich die neuere polnische Forschung unter anderem mit den Nationalitätenkonflikten in Lódz' vor der deutschen Okkupation und der Geschichte der Deutschen in Lódz'. Der polnische Antisemitismus sei zudem spätestens seit der Jedwabne-Debatte verstärkt in den Blickpunkt des Forschungsinteresses getreten. Zu den neuen Erkenntnissen zähle, dass Lódz' das Zentrum des polnischen Faschismus gewesen sei, dessen Organisationen unter anderem von deutschen Unternehmern in Lódz' finanziert worden seien.

Beate Kosmala (Berlin) befasste sich mit der „Erinnerung an das Ghetto in Lódz' in Deutschland und Polen seit 1945 bis heute“. In Polen sei erst in den 1990er-Jahren eine Hinwendung zum Gedenken an die jüdischen Opfer erfolgt. Auch in Lódz' sei das Gedenken nach 1945 eng mit politischen Interessen der herrschenden kommunistischen Partei verknüpft gewesen. Diese habe mehrfach gegen Juden gerichtete Proteste instrumentalisiert, um von sich selbst bzw. den politischen wie ökonomischen Krisen abzulenken. In Deutschland habe die Erinnerung an die Vertreibung der Deutschen die Erinnerung an die Rolle der Deutschen in Lódz' überlagert. Diese selektive Erinnerung sei erst durch verschiedene Gerichtsverfahren und die Ausstellung des Jüdischen Museum Frankfurt über den spektakuläre Fund von Farbfotos aus dem Ghetto ansatzweise verändert worden.

Marek Szukalak (Lódz') sprach zur Geschichte des jüdischen Friedhofs in Lódz', dem größten jüdischen Friedhof in Europa. Mittlerweile konnte eine Datenbank mit mehr als 100.000 Namen von auf dem Friedhof Bestatteten erstellt werden. Die Forschungs-, Erhaltungs- und Restaurierungsarbeiten werden von einer 1982 gegründeten Stiftung getragen. Diese wird durch einen hohen Anteil privater Spenden – vor allem von Überlebenden oder Angehörigen und Nachfahren Lódz'er Juden – finanziert.

Pawel Kowalski (Lódz') berichtete über die „Bildungsaktivitäten des Polnischen Instituts für nationales Gedenken zum Thema Holocaust“. Er hob die Bedeutung der Jedwabne-Debatte für die Wiedererlangung der Erinnerung hervor. Diese habe im Besonderen in einer Abrechnung mit Kollaborateuren bestanden habe. Ein weiteres Thema seines Vortrages war eine Umfrage, die unter Lódz'er Lehrerinnen und Lehrern durchgeführt wurde.

Sascha Feuchert (Gießen) stellte seine umfangreichen Arbeiten zur Edition der Ghetto-Chronik des Ghetto Litzmannstadt vor. Das in Kooperation mit dem Staatlichen Archiv von Lódz' durchgeführte Projekt steht kurz vor der Veröffentlichung der ersten deutsch- und polnischsprachigen Bände. Darin wird die von Mitarbeitern des Ghetto-Archivs zwischen 1941 bis 1944 erstellte Tageschronik aufgeführt, die durch Texte aus Gerichtsakten ergänzt werden. Außerdem werden die Chronik-Texte mit anderen Quellen wie z.B. Ghetto-Tagebüchern vernetzt. So wird dieses Projekt auch für die weitere Forschung zur Geschichte des Ghettos ein Meilenstein sein.

Diana Schulle (Berlin) stellte ein neues Forschungsprojekt über die in das Ghetto Litzmannstadt deportierten Berliner Jüdinnen und Juden vor, das gemeinsam vom Centrum Judaicum und dem Staatlichen Archiv Lódz' durchgeführt wird. Durch die Auswertung bislang wenig erschlossener Quellen erhofft sich Schulle neue Erkenntnisse über die Berliner Transporte in das Ghetto Litzmannstadt. Schulle hat zusammen mit Alfred Gottwaldt das Grundlagenwerk über alle Berliner Transporte veröffentlicht.

Schließlich berichtete Joanna Podolska (Lódz') von einem mehrjährigen Forschungsprojekt zur Geschichte des Ghettos, das sie mit Studierenden der Universität Lódz' durchführt. Dabei wurden 40 Interviews geführt, unter anderem mit nicht-jüdischen polnischen Anwohnern und Ghetto-Überlebenden in Israel. Besonders schwierig seien die Versuche gewesen, Kontakt zu ehemaligen nicht-jüdischen deutschen Bewohnern aufzunehmen.

Am Ende der Tagung fand unter der Leitung von Thomas Lutz und Joanna Podolska ein Arbeitstreffen deutscher und polnischer Studenten/innen statt, um die weiteren Schritte eines gemeinsamen Recherche-Projekts über nach Lódz' deportierte Berliner Jüdinnen und Juden abzustimmen.

Im Rahmen der Tagung stellten deutsche und polnische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler neueste Forschungsergebnisse vor, die einen Einblick in ein breites Themenspektrum von der Geschichte des Ghettos Litzmannstadt bis zur allgemeinen Erinnerungskultur ermöglichte. Eine Reihe von Anknüpfungspunkten für den weiteren Austausch und zukünftige Kooperationen bietet der Blick auf die Beziehungen zwischen Berlin und Lódz'. Deutlich wurde auch, das Lódz' durch die neuen Wege in der Erinnerungskultur und in der Forschung über das Potential verfügt, sich zu einem zentralen Eckpfeiler der Erinnerung in Mitteleuropa zu entwickeln. Meines Erachtens hat das deutsch-polnische Gedenkstättenseminar als ein Forum für den freien wissenschaftlichen Dialog überzeugt. Eine Fortsetzung ist unbedingt wünschenswert.


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